Die Königskrone bleibt verschwunden

 

2010-11-05

Gäubote Herrenberg

von

Sabine Haarer

Geschichten aus der Geschichte: Vor fast genau 250 Jahren wurde die Kelterkirche Reusten geweiht

Vor fast exakt 250 Jahren, am 2. November 1760, wurde die Kelterkirche in Reusten eingeweiht. Das Gebäude in der Ortsmitte stand allerdings schon lange vorher: Es wurde 1575 als Weinkelter gebaut. Und auch das Kircheninventar hat eine lange Vorgeschichte – es stammt teilweise aus der Reustener Bergkirche, die um 1300 erbaut und 1353 erstmals schriftlich erwähnt wurde. Roland Fakler und Jürgen Parchem haben die Kirchengeschichte recherchiert und in einem Kirchenführer zusammengefasst.

1979 ist Roland Fakler nach Reusten gezogen, seitdem beschäftigt er sich intensiv mit der Ortsgeschichte. „Für so einen kleinen Ort hat Reusten eine ungeheuer reiche Geschichte“, hat er festgestellt. Die war bis dahin kaum oder teilweise gar nicht erforscht. Rudolf Fritz, alteingesessener Reustener, hat Roland Fakler seine Unterlagen überlassen und ihm damit eine Grundlage für seine Nachforschungen geboten. Als wahre Fundgrube entpuppte sich die Ortschronik des Reustener Lehrers Paul Groß. Die Chronik ist in den Jahren zwischen 1932 und 1934 entstanden, das Einzelexemplar und die darin aufgearbeiteten Kirchenpfleg-Rechnungen befinden sich heute noch im Archiv des örtlichen Rathauses. „Die Ortschronik ist in Sütterlinschrift geschrieben. Wir haben sie abfotografiert, die Seiten an meine Mutter im Allgäu geschickt und sie hat uns das übersetzt“, erzählt Roland Fakler von den eher unorthodoxen Recherchemethoden. „Wir“ schließt Jürgen Parchem mit ein. Er hat am Ortsbuch und am Kirchenführer mitgearbeitet und dabei vor allem die Archivarbeit übernommen. Als weitere Quelle diente eine Festschrift von Pfarrer Kurt Müller – der Reustener Pfarrer hat sie anlässlich der Renovierung der Kelterkirche 1956 herausgegeben. Darin hat er mit Texten und selbst gemachten Fotografien den letzten großen Umbau des Gotteshauses dokumentiert.

Die Geschichte der Reustener Kelterkirche reicht jedoch viel weiter zurück, sie hat ihren Ursprung in der Bergkirche. Sie wurde um 1300 von den Zisterziensermönchen des Klosters Bebenhausen auf dem Ruster Berg gebaut, nachdem das Kloster im Jahr 1293 das Dorf samt „Höfen, Vogtei, Fischereirechten, dem Kirchenpatronat in Poltringen und allen Leuten“ den Tübinger Pfalzgrafen abgekauft hatten. Das genaue Baujahr der Bergkirche, der Heiligkreuz- Kapelle, ist nicht bekannt, im Jahr 1353 wird sie erstmals schriftlich erwähnt. Sie soll einen kleinen Turm gehabt haben, unklar ist jedoch, wie er genau ausgesehen hat. „Die Kartografen haben die Kirche mit verschiedenen Türmen gemalt“, hat Roland Fakler festgestellt. 1696 musste das Mauerwerk saniert und das Dach neu eingedeckt werden, die Bergkirche bekam innen und außen einen neuen Anstrich. Allerdings hielten diese Arbeiten nicht lang vor: Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Bergkirche als baufällig eingestuft und geschlossen. „Der Befehl kam vom Herzog aus Stuttgart, die Reustener mussten von da an nach Poltringen in die Kirche“, weiß Roland Fakler. Ein Umstand, der den Dorfbewohnern wohl kaum gefallen hat. Sie wollten eine eigene Kirche im Dorf und hatten mit der Kelter das passende Gebäude dafür ausgespäht. Der Weinkeller war von den Mönchen aus Bebenhausen im Jahr 1575 gebaut worden, knapp 200 Jahre später sorgten die Reustener selbst dafür, dass die Kelter überflüssig wurde. „1754 haben sie auf einer Fläche von 300 Meter mal 400 Meter die Weinstöcke ausgerissen“, hat der Heimatforscher in Erfahrung gebracht. Daraufhin gab Karl Eugen von Württemberg seine Einwilligung zum Umbau der Kelter, die Handwerker rückten an. Sie mauerten die großen Keltertore zu, entfernten die eichene Hauptsäule in der Gebäudemitte, bauten außen eine Sakristei, innen eine Kanzel und – als sichtbarstes Zeichen – einen Glockenturm. Dort hinein kamen zwei Glocken aus der Bergkirche. Die kleinere, im Jahr 1300 gegossen, hängt heute noch dort. Eine zweite wurde 1767 zum ersten und 1942 zum zweiten Mal umgeschmolzen. Ebenfalls aus der Bergkirche stammt die Christusfigur am Kreuz hinter dem Altar. „Pfarrer Christoph David Bayer hat die Figur 1709 gestiftet“, so Roland Fakler, das Holzkreuz wurde 1950 erneuert. Vermutlich stammen auch die Holzbalken, die die Empore tragen, aus der Bergkirche. „Ein alter Reustener hat uns das erzählt.“ Um Gewissheit zu haben, müsste man das Holz dendrochronologisch untersuchen lassen.

Gesichert ist inzwischen jedoch, dass die Emporenbilder – die 13 Ölgemälde zeigen Jesus und zwölf Apostel – aus der Bergkirche stammen. „Bislang wussten wir nur, dass sie beim Umbau 1956 restauriert wurden“, erzählt Fakler. Anlässlich des Jubiläumsfestes zur 250-jährigen Weihe der Kirche in der Kelter haben er und Parchem noch einmal recherchiert. „Nach einem Hinweis in der Groß-Chronik haben wir im Rathaus eine Rechnung gefunden. Die belegt, dass die Bilder 1735 von einem Schreiner mit Namen Wellhäuser gerahmt wurden.“ Verschwunden ist hingegen die „Königskrone“, die ebenfalls aus der Heiligkreuz- Kapelle auf dem Ruster Berg stammt. Wie die Fotos von Pfarrer Kurt Müller zeigen, hing der Schalldeckel vor der Renovierung im Jahr 1956 noch über der Kanzel in der Reustener Kelterkirche, seitdem ist der kunstvoll verzierte Deckel „verschwunden und nie wieder aufgetaucht“. Erhalten ist aber die Tafel, die anlässlich der Einweihung der Kelterkirche am 2. November 1760 angebracht wurde und auf der die geistlichen und weltlichen Herren der damaligen Zeit aufgeführt sind.

Geschichten aus der Geschichte Die Geschichte, heißt es, handelt davon, wie das, was geworden ist, geschehen ist. Überall in der Gegenwart finden sich Spuren der Vergangenheit, anhand derer Historiker mitunter lange zurückliegende Ereignisse und Zusammenhänge rekonstruieren. Die Kenntnis verändert dabei nicht selten den Blick auf die Gegenwart. Das Gäu ist eine Region, die reich ist an solchen Spuren – ob es sich nun um Denkmäler handelt, um Kirchen oder andere Bauten, um Straßen, Ortsnamen oder um die Zeugnisse von Persönlichkeiten, die Epochen der Lebensgeschichte geprägt oder zumindest erlebt haben. In seiner Serie „Geschichten aus der Geschichte“ möchte der „Gäubote“ einen Einblick in die lokale Historie geben. In dieser Ausgabe steht die Reustener Kelterkirche im Mittelpunkt, die vor fast exakt 250 Jahren geweiht wurde – aber als Gebäude schon viel länger besteht. Der Name sagt es schon: Das Haus diente früher als Kelter. -gb-

Kelterkirche Reusten auf Aufnahmen von 1906 (oben) und 1956 (unten), noch mit Schalldeckel GB-Fotos: gb

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